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Herbsttagung 2020

13,69 Euro?! Ein Mindestlohn, der seinem Namen gerecht wird?

Die Herbsttagung fand in diesem Jahr in ungewohnter Weise statt. Nachdem wir die eigentlich für das Frühjahr angesetzte Tagung aufgrund der Corona-Pandemie verschieben mussten, konnten wir unsere Tagung als digitales Format Anfang Dezember erfolgreich durchführen. Durch die veränderte Form war es nun leicht möglich, das Kolleg*innen bspw. aus den Bistümern Osnabrück, Speyer oder Trier sich zuschalten konnten.

Wenngleich über ein halbes Jahr vergangen war, änderte sich nichts an unserem Anliegen und den Forderungen, die wir während der Tagung diskutiert haben. Für uns ist nur umso klarer geworden, dass gerade systemrelevante Berufe besser bezahlt und nicht etwa mit einem Mindestlohn abgespeist werden, der geradewegs in die Altersarmut führt.

Während der Tagung wurden verschiedene Perspektiven auf das Thema Mindestlohn betrachtet. In fünf Impulsen näherten wir uns dem Thema.

 

Ich bin gekommen, dass sie das Leben haben, und es in Fülle haben.

P. Ernst-Willi Paulus stellte theologische Aspekte vor. Viele werden da zunächst an die Arbeiter im Weinberg denken. Von denen einige 12 Stunden arbeiten und andere nur 1 Stunde – und am Ende alle den gleichen Lohn bekommen. Ein Vergleich aus der Welt der damals üblichen Tagelöhner hin zu unserem Verständnis von Arbeit mit festen Anstellungen, Tarifverträgen, Sozialversicherung und Rechtsschutz zu ziehen, fällt schwer: „Eine große Versuchung, das Thema „Mindestlohn“ da hinein zu lesen! Aber schon die Überschrift dieser Textstelle macht klar, dass es nicht um einen Muster-Tarifvertrag geht und eben auch nicht um einen Mindestlohn. Es geht um das Himmelreich.“ Obwohl das Thema Lohn oft in der Bibel aufgegriffen werde, müsse heute die Antwort auf die Frage, was ein gerechter Lohn sei, anders beantwortet werden, als zu Zeiten Jesu. Für uns gehört mehr zum Leben, als jeden Tag satt zu werden und ein Dach über dem Kopf zu haben.
Die Sozialenzykliken geben uns hier eine passendere Beschreibung. Bereits „Quadragesimo Anno“ (1931) forderte „dass Arbeiter und Angestellte einen Lohn- oder Gehaltsanteil… zurücklegen können und so allmählich zu bescheidenem Wohlstand gelangen.“ In „Mater et Magistra“ (1961) liest man: „Es ist geboten, dem Arbeiter einen Lohn zu zahlen, der für ihn selbst zu einem menschenwürdigen Leben ausreicht und ihm ermöglicht, die Familienlasten zu bestreiten. Für einen gerechten Lohn ist zu berücksichtigen an erster Stelle die produktive Leistung, dann die wirtschaftliche Lage des Unternehmens, die Erfordernisse des volkswirtschaftlichen Gemeinwohls und das weltwirtschaftliche Gemeinwohl.“

Die Kongregation für die Glaubenslehre hat in ihrer Instruktion „Libertatis Conscientia“ (1986) festgestellt, dass der Arbeitslohn nicht als einfache Ware verstanden werden darf. Der Lohn muss dem Arbeiter und seiner Familie ermöglichen, Zugang zu erhalten zu einem wahrhaft menschlichen Lebensniveau im materiellen, sozialen, kulturellen und geistigen Bereich. Es ist die Würde der Person, die das Kriterium zur Beurteilung der Arbeit bildet.

Der Wert der menschlichen Arbeit hängt nicht in erster Linie von der Art der geleisteten Arbeit ab; er hat sein Fundament in der Tatsache, dass der Arbeitende eine Person ist. Das, was unsere staatliche Verfassung als „Würde des Menschen“ bezeichnet, das nennt die Bibel Gottesebenbildlichkeit. Das ist nichts, was ich mir selbst erwerben kann oder muss; das ist nichts, was andere – z.B. der Staat – mir gewähren oder verweigern können. Zur Menschenwürde, zur Gottesebenbildlichkeit gehört ganz notwendig das Recht auf Leben. Wobei Leben mehr ist als ein paar biologische Funktionen. Jesus hat es so gesagt: „Ich bin gekommen, dass sie das Leben haben, und es in Fülle haben.“ (Joh 10,10)

Zur Würde des Menschen gehört auch ganz wesentlich seine Freiheit. Der arbeitende Mensch kann und soll seinen Lohn mit dem Arbeitgeber verhandeln und vertraglich regeln. Wo dies aus welchen Gründen auch immer nicht geschieht oder wo bei solchen „freien“ Regelungen Dumpinglöhne herauskommen, da ist der Staat in der Pflicht, seiner Aufgabe als Garant der Menschenwürde nachzukommen. Genau das bezweckt der Mindestlohn.

 

Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit ...

In einem zweiten Impuls erläuterte Timo Freudenberger die staatlichen bzw. verfassungrechtlichen Grundlagen eines Mindestlohns anhand des Grundgesetzes und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Dies geschah auf im Rückgriff auf die Prinzipien der christlichen Sozialethik, insbesondere auf die Personlität. Die bereits betonte Gottesebenbildlichkeit findet ihren Ausdrück in einer unantastbaren Würde des Menschen, wie sie durch Art. 1 GG geregelt wird. Aber auch der Aspekt der Verantwortung für das individuelle Tun steckt im Prinzip der Personlität und findet sich u.a. in der Präambel des Grundgesetzes wieder. Der Katalog an Grundrechten im Grundgesetz gewährt uns auch das Recht auf freie Entfaltung und Teilhabe (u.a. Art. 71 (7) GG) und Tarifautonomie (Art. 9 GG). Das Sozialprinzip der Subsidiarität ist ebenfalls deutlich herauszulesen. Das Bundesverfassungsgericht hat insbesondere in zwei Parteiverbotsverfahren das, was die freiheitlich-demokratische Grundordnung kennzeichnet, herausgestellt: „Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, ...“ (BVerfGE 2, 1 (Ls. 2, 12 f.))

Damit liefern uns das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht die verbrieften Rechte der Unverletztlichkeit sowie der freien Entfaltung der Person. Hinzu kommen die Sicherung des soziokulturellen Minimus durch den Sozialstaat, Chancengleichheit und Teilhabe. Auf der Spurensuche nach Grundlagen für einen armutsfesten Mindestlohn finden sich also einige Anweisungen. Zur Umsetzung bedarf es jedoch einer tatsächlichen finanziellen Absicherung der beschriebenen Ansprüche. Im Falle des Mindestlohns beginnt diese erst bei 13,69 €!

 

„Das führt in die Altersarmut“

Rüdiger Wala sprach zu den politischen Ideen und Entwicklungen. Er betonte, dass der Mindestlohn eine gesetzliche bundesweite Lohnuntergrenze für alle Arbeitnehmer*innen ab 18 Jahren ist und dort gilt, wo es keine andere höhere Regelung gibt. Der Mindestlohn wurde vom Deutschen Bundestag beschlossen und gilt seit August 2014 (Start 2015: 8,50 Euro). Momentan liegt der gesetzliche Mindeslohn bei 9,35 € (1.1.2021: 9,50 €, 1.7.2021: 9,60 €, 1.1.2022: 9,82 €, 1.7.22: 10,45 €) Es gibt jedoch Ausnahmen für Azubis, Praktikant*innen, Langzeitarbeitslose, Heimarbeit, Werkstätten für Behinderte, allerdings gibt es seit diesem Jahr keine branchenspezifischen Ausnahmen mehr.

Die Mindestlohnkommission ist paritätisch besetzt und erhält wissenschaftliche Beratung. Der Mindestlohn wird auf Vorschlag der Kommission alle zwei Jahre durch die Bundesregierung neu beschlossen. Das Verfahren zur Empfehlung der Kommission sieht auch eine  gesellschaftliche Diskussion vor (Verbandsbeteiligung). Die Einhaltung des beschlossenen Mindestlohns wird durch die Zollverwaltung kontrolliert.

Zudem gilt der gesetzliche Mindeslohn auch für Arbeitnehmer*innen, die im Ausland angestellt sind, aber in Deutschland arbeiten. Manche Bereiche werden jedoch noch immer umgangen, wie beispielsweise Trinkgelder, Arbeitsmaterial, unbezahlte Überstunden, Werkverträge. Abschließend kann man sagen, dass der Mindestlohn nicht zu Arbeitsplatzverlusten geführt hat, ca. 5,6 Millionen Arbeitnehmer*innen haben von ihm profitiert.

Aus Sicht der KAB ist der Mindestlohn weiterhin deutlich zu niedrig. Für den Fall, dass jemand einen Mindestlohn von 10,45 € über 45 Jahre Arbeit hinweg bekommen hat, gibt es eine Rente von 699 €. Für ein lebenslanges Arbeiten ist das zu wenig. Nur ein Mindestlohn in angemessener Höhe ermöglicht eigentständiges Leben und Teilhabe. Das fängt bei 13,69 € (für die Berechnung sind 60 % des Bruttomonatsverdienstes anzunehmen).
Nur wenn der Mindestlohn eine angemessene Höhe hat, stärkt er die Tarifautonomie und schützt er vor Altersarmut.

 

Der Gender Pay Gap

Auf den ersten Blick ist das Thema nicht sofort mit einem Mindestlohn zu verbinden. Dennoch wird hier klar, dass im Bereich faire Löhne auch das Thema Gleichsstellung mit betrachtet werden muss. Am 23. Mai 1949 wurden Frauen und Männer formal durch den Art. 3 GG gleichgestellt. Auch wenn uns dieses Recht in der heutigen Zeit selbstverständlich erscheint, sind Frauen in Deutschland und weltweit noch immer in der Politik, Wirtschaft und Wissenschaft unterrepräsentiert.

Frauen leisten weltweit täglich zwölf Milliarden Stunden unbezahlter Arbeit im häuslichen Bereich. Würde man diese Arbeit nach Mindestlohn bezahlen, entspräche dies in einem Jahr einem Gegenwert von 11 Billionen Dollar. Diese Leistung von Frauen taucht in keiner Wirtschaftsstatistik auf. Ist die Hälfte der weltweiten Bevölkerung nun unsichtbar? Ungerechte Bezahlung ist nur die Spitze des Eisberges. Wir müssen wieder mehr darüber reden, was es braucht, um in dieser Gesellschaft dazugehören zu können – und was Arbeit wert ist. Ein fairer Lohn sichert den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland. Ein armutsfester Mindestlohn kann ebenfalls dazu beitragen, dass der Einkommensunterschied zwischen Männern und Frauen abgeschmolzen wird: Frauen verdienen noch immer bis zu 21 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Zudem wird ein richtig gerechneter Mindestlohn auch die Branchenmindestlöhne nach oben drücken: Das betrifft Reinigungskräfte, Lagerarbeiter und die überwiegend in Supermärkten und in der Pflege beschäftigten Frauen. In der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, wie wichtig diese Tätigkeiten sind, die häufig nur knapp über dem Mindestlohn bezahlt werden. Deshalb müssen wir die Armutsfalle Mindestlohn so schnell
wie möglich beenden und für echte menschenwürdige Perspektiven sorgen.

 

Tarifautonomie stärken – Mindestlohn sichern

Den Abschluss der Impulse bereitete Egbert Biermann, der den Blick auf die Tarifautonomie lenkte. Die Einkommens- und Arbeitsbedingungen zu gestalten ist zuerst eine Aufgabe der Tarifvertragsparteien. Diese Tarifautonomie ist Ausfluss des Subsidiaritätsprinzips. Wenn die Träger der Tarifautonomie – Gewerkschaften sowie Arbeitgeber und ihre Verbände – dies nur noch unzureichend leisten, dann soll der Staat sie zuerst unterstützen, bevor er ihnen die Aufgabe abnimmt. Deshalb wäre zuerst vorzusehen die „Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen“ leichter als bisher zu erreichen, die OT-Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden zu ächten und im Vergaberecht der öffentlichen Hand zwingend das Vorhandensein eines Tarifvertrages als Bedingung für einen Auftrag vorzusehen. Auch die tarifliche Begünstigung von Gewerkschaftsmitgliedern wäre anzuerkennen, denn sie ermöglichen durch ihre Betragszahlung erst die Existenz von Gewerkschaften und damit ermöglichen sie den Abschluss von Tarifverträgen, der dann auch Nichtmitgliedern zu nutzen wird, wenn Arbeitgeber ihnen den tariflichen Lohn zahlen, obwohl sie dazu rechtlich nicht verpflichtet wären.

Der gesetzliche Mindestlohn kann nur die unterste Auffanglinie sein. Deshalb sind bisherige Ausnahmen auf den Prüfstand zu stellen und die Unterschreitung stärker als bisher zu bestrafen. Unabhängig von der Höhe des Mindestlohnes wird für viele Beschäftigte eine Ergänzung des Einkommens durch Transferleistungen notwendig sein. Alleinlebende, Paare, Alleinerziehende oder Familien mit mehreren Kindern haben unterschiedlich hohe Lebenshaltungskosten, die bei gleicher Arbeit nicht durch Unterschiede beim Lohn berücksichtigt werden können, weil dann das Prinzip „gleicher Arbeitsort, gleiche Arbeit, gleicher Lohn“ durchbrochen werden müsste. Auch in bestimmten Lebenslagen oder gar dauerhaft werden manche Menschen allein mit ihrem Erwerbseinkommen ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten können. Sozialleistungen zu beziehen ist deshalb von seinem gesellschaftlichen Makel zu befreien.

Nach den Impulsen erfolgte ein Austausch in Kleingruppen und eine Abschlussdiskussion. Das Thema Mindestlohn empfinden viele als „technisch“ und schwierig greifbar. Einig war man sich jedoch, dass die Diskussion um den Mindestlohn weiterhin entschieden geführt werden muss. Erst wenn der gesetzliche Mindestlohn in der Lage ist, Teilhabe und Existenz zu sichern und auch eine Perspektive für das Alter zu bieten, verdient er den Namen Mindestlohn.

Alle Beteiligten betonten, dass das Thema sie noch weiter beschäftigen werde. Die erste digitale Herbsttagung der KAB Hildesheim war damit ein erfolgreiches Experiment auf dem Weg hin zu neuen Formen des Austauschs und voneinander Lernens.

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